Die Gnade der zweiten Geburt, Teil 2 – oder Langeweile ist ein Segen

Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen meinem Großen gegenüber.

Es überkommt meistens dann, wenn der Kleine ungestört mit seinen Baufahrstellenfahrzeugen vor sich hin spielt, er ermahnungsfrei rasend schnell die Straße hinunterläuft, er so vieles selbst ausprobieren und machen darf, weil wir es z.B. schon lange aufgegeben haben, unsere Wohnung allzeit vorzeigbar zu halten, oder wenn er in Interaktion mit seinem großen Bruder elterneinmischungsfrei streitet.

Ich wünschte, ich hätte, als mein Erstgeborener damals auf die Welt kam, schon gewusst, was ich heute weiß.

Eine der Erkenntnisse, von der ich nie gedacht hätte, dass ich einmal vorbehaltlos von ihr überzeugt sein würde, ist beispielsweise, dass Langeweile ein Segen ist.

Früher dachte ich, dass wiederkehrend gelangweilte Kinder, nur in solchen Familien vorkommen, in denen deren Oberhäupter weder Zeit noch Lust haben, sich ausreichend mit ihrem Nachwuchs zu beschäftigen. Unnötig zu sagen, dass eine solche Einstellung meinem Erziehungsverständnis komplett zuwider lief. Ich wollte meinem Sohnemann ständig neue Anreize bieten, sein Gehirn dauerhaft stimulieren, ihm die Welt erklären und immer für ihn da sein.  Und ich war der Überzeugung, auf diese Weise das Beste für ihn zu tun.

Mittlerweile habe ich erkannt, dass wenig die Kreativität und Selbständigkeit von Kindern mehr fördert, als zeitweilige, vermeintlich anreizlose Phasen.

Während mein Großer immer noch am liebsten unterhalten wird, statt sich selbst zu beschäftigen, kann der kleine Bruder stundenlang für sich allein im Sandkasten herum buddeln, oftmals nur mit seinem Lieblingsbagger ausgestattet. Ich habe auf dem Spielplatz kapitelweise Bücher verschlungen, oft beneidet, in jedem Fall aber kritisch beäugt, von anderen Müttern, die mit Sandförmchen spielen und Burgen bauen mussten, während mein Nesthäkchen zufrieden war, nicht ständig von seiner oder irgendeiner anderen Mutter behelligt zu werden. Er wusste ja, wo ich war, auf der Bank in der Sonne nämlich.

Der Kleine hatte und nutzte die Möglichkeit, den gesamten Spielplatz alleine zu erkunden. Ich bin nicht mit Argusaugen zwei Schritte hinter ihm gewesen und habe Gefahren gewittert, habe auch keine wohlgemeinten, aber überflüssigen Ratschläge erteilt oder Aktivitäten bereitgestellt, wie ich das bei seinem großen Bruder etliche Male praktiziert habe. Der Zweitgeborene hingegen war im Radius der umzäunenden Spielplatzhecken quasi frei, zu tun, was er wollte, und nicht angehalten an dem Freude zu finden, was ich ihm angeboten habe – und ich konnte in Ruhe lesen, was wir beide sehr zu schätzen wussten.

Manchmal hat er auch andere Kinder getroffen, und je nach Sympathie durften die mitspielen oder nicht – selbst ausgedachte Spiele, die ganz selbstverständlich entstanden sind. Und wenn es einmal zum Streit kam, habe ich versucht, sie das einfach unter sich regeln zu lassen, und verharrte fest auf meiner Bank.

Überhaupt haben der Kleine und ich mehr Zeit auf dem Spielplatz verbracht als irgendwo sonst und zwar immer auf dem Gleichen. Das lag zum Einen daran, dass dieser nur vier Minuten fußläufig von uns entfernt liegt – ich konnte meinen Kaffee trinkwarm mitnehmen – zum Anderen hatten wir hieran viel mehr Spaß, als für irgendwelche pädagogisch wertvollen Kurse mit dem Auto durch die Stadt zu gurken. Außerdem haben sich auf diese Weise ganz ungezwungen einige nette Kontakte ergeben.

Dieses veränderte Verhalten hat zur Folge, dass unserem Jüngsten nur selten lange langweilig ist. Als Nebeneffekt kommt hinzu, dass er in seinem zarten Alter von knapp drei Jahren nur vor wenigen Dingen Angst hat, motorisch sehr fit ist, sich selbst viel zutraut und ausprobiert, offen auf Neues zugeht, seine Fähigkeiten aber dennoch ganz gut einschätzen kann, und bei seinen Spielkameraden sehr beliebt ist.

Seit sein kleiner Bruder geboren ist, ärgere ich meinen Großen regelmäßig mit folgender, schematischer Antwort auf seine Aussage „Mir ist ja soooo langweilig!“: „Langeweile ist ganz wichtig! Sie tut Dir gut und lässt Dich kreativ werden. Nur so werden Erfindungen gemacht.“

Und obwohl es ihn furchtbar nervt, merke ich doch, wie er immer besser allein für sich zurechtkommt, immer einfallsreicher wird, sich eigene Spiele ausdenkt, manchmal auch nur in die Luft starrt und seiner blühenden Fantasie freien Lauf lässt. Es ist eine Win-Win-Situation für alle.

Das Leben ist so viel angenehmer und entspannter, wenn man nicht zu ständiger Interaktion verpflichtet ist, sowohl für uns Erwachsene als auch fürs Kind.

Das ließe sich noch auf so viele Bereiche unseres Lebens übertragen, wenn wir Langeweile doch endlich wieder zulassen könnten und dürften.

Wobei langweilt Ihr Euch?

Wann war das zuletzt?

Wie durchgetaktet sind Eure Tage und die Eurer Lieben?

Eure VME

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