Unser Grundgesetz ist gut 70 Jahre alt und wahnsinnig gut gemacht. Beide Tatsachen bedingen sich gegenseitig und bauen aufeinander auf. Das Grundgesetz zog Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik unter dem Eindruck der Gräuel des daraus resultierenden Nationalsozialismus. Es sollte eine „wehrhafte Demokratie“ geschaffen werden. Gleichzeitig wurden dem Individuum unveräußerliche Gleichheits- und Freiheitsrechte verfassungsmäßig zugesagt – die Grundrechte, die den ersten Abschnitt des Grundgesetzes bilden, und an denen noch heute jegliches staatliche Handeln zu messen ist.

Vor einer halben Ewigkeit habe ich Rechtswissenschaften studiert. Bei der Prüfung, ob ein Grundrecht unrechtmäßig verletzt wurde, kommt der junge Jurastudent und auch der erfahrene Verfassungsrichter an einem Grundsatz nicht vorbei – nämlich dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.

Der Grundrechtseingriff muss im Hinblick auf den durch ihn verfolgten (legitimen) Zweck verhältnismäßig sein. Dabei darf kein milderes Mittel zur Erreichung der Zweckes ausreichend und geeignet sein.

„Im Rahmen des Vergleichs mehrerer Mittel sind Eigenart und Intensität des Eingriffs, die Zahl der Betroffenen, belastende oder begünstigende Einwirkungen auf Dritte und Nebenwirkungen der belastenden Maßnahme zu berücksichtigen.“ (Reuter, JURA 2009, 511 ff)

Am Ende der Prüfung – als Königsdisziplin – muss immer eine konkrete Abwägung zwischen der Schwere des Grundrechtseingriffes, dem Grad der Zweckerreichung, der widerstreitenden Interessen vorgenommen werden.

Ich möchte an dieser Stelle nicht subsumieren und bewerten, ob der totale Stillstand des sozialen und ökonomischen Lebens zugunsten einer Gesundheits- oder Lebensgefahr (Art. 2 II GG) gegen das Recht des Einzelnen auf

  • freie Entfaltung der Persönlichkeit ( Art. 2 I GG)
  • den Gleichheitssatz (Art. 3 GG)
  • Glaubens- (Religions-) und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG)
  • Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG)
  • Schutz der Familie (Art. 6 GG)
  • Schulische Bildung (Art. 7 GG)
  • Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)
  • Brief- und Telefongeheimnis (Art. 10 GG)
  • Freizügigkeit (Art. 11 GG)
  • Freie Berufswahl (Art. 12 GG)

verstößt, ob es hierfür insbesondere nicht mildere Mittel geben könnte. Ich möchte nur dazu anregen, sich mit diesen Fragen auch im Sinne einer wehrhaften Demokratie auseinanderzusetzen.

Bei jeglicher Diskussion und Erörterung möchte ich aber an unseren höchsten Leitsatz und Grundrecht Nummer 1 erinnern, dass für jede Seite und jedes Lager gelten muss:

„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Ich möchte hinzufügen: Auch jeder Einzelne ist verpflichtet, die Würde eines jeden Menschen zu schützen.

VME