Immer öfter widerfahren mir Begebenheiten, die mich mich fragen lassen, ob ich vielleicht nicht doch versehentlich aus dem Jahrhundert gefallen bin und es noch nicht bemerkt habe. So wie, wenn man irgendwann aus Forschungszwecken eingefroren wurde und nun nach Jahrzehnten wieder auftaut, sich die Augen reibend, wundernd, in welche Realität man denn da hineingeraten ist. Man kommt irgendwie nicht ganz mit.
Dornröschens Schicksal fällt mir in diesem Zusammenhang ein, und erst jetzt erkenne ich, wie zutiefst verstörend das auf die arme Prinzessin gewirkt haben muss, nach hundert Jahren wieder aufzuwachen – alle Familienmitglieder tot, aber glücklicherweise hat sich an den gesellschaftlichen Gegebenheiten ja nicht so wahnsinnig viel verändert – keine Revolution in der Zwischenzeit, Monarchie immer noch angesagt, Prinzessin durfte sie bleiben, und da auch die Gleichberechtigung noch mindestens hundert Jahre auf sich warten ließ, hinterfragte sie ihr Schicksal auch nach zehn Dekaden nicht, und heiratete freudestrahlend ihren Prinzen.
Ganz so drastisch stellt sich das in meinem normalen Leben natürlich nicht dar. Es sind eher die kleinen Anzeichen auf dem Weg, die ich ganz lange ignoriert habe. Erst kennt keiner mehr Peter Frankenfeld, die Abkürzung „EWG“ wird nurmehr mit dem europäischen Wirtschaftsraum in Zusammenhang gebracht, aber keinesfalls mit einer Samstagabendshow, und irgendwann wird dann die Samstagabendshow an sich überflüssig, weil die neue Generation das die Nation verbindende Sonnabendevent nicht mehr braucht.
Ich habe mir diese, meine Entwicklung, lange Zeit schönreden können, weil ich quasi schon alt auf die Welt gekommen bin.
Als Einzelkind unter Erwachsenen ein häufiger Effekt, welcher noch dadurch verstärkt wurde, dass ich vom dritten bis siebten Lebensjahr bei meinen Großeltern aufgewachsen bin. Peter Alexander war mein Held. Es heißt zwar immer, dass jeder ein Kind seiner Zeit wäre, ich bin hingegen mental eher Kind der 50er Jahre gewesen.
So daran gewöhnt, dass die meisten Gleichaltrigen sowieso nur die Hälfte der Fakten kennen, auf die ich mich beziehe, war es für mich in gewisser Weise normal, sonderbar oder besonders so sein. Es war klar, dass mich nicht alle verstehen, aber zumindest wusste ich, was die anderen meinen – und das generationenübergreifend. Ich habe mich also eher im Wissensvorteil gefühlt.
Wenn Du aber die Zeitgenossen an einer Hand abzählen kannst, die sich erinnern, dass Twix auch einmal Raider hieß, Herr Kaiser schon lange nicht mehr mit großem und fröhlichem Hallo begrüßt wird, und Krisskross nur noch mit dem Zusatz „Amsterdam“ gebraucht wird, dann kommst Du ins Grübeln.
Es ist nämlich schon lange nicht mehr so, dass meine Allgemeinbildung das Beste aller Welten vereint. Das tat sie nur so lange, wie man noch von einer Allgemeinheit sprechen konnte, die über ein ähnliches Bewusstsein und den gleichen Wertekanon verfügt. Das quantitative Moment ist hierbei immanent, und so empfinde ich mich mit zunehmendem Alter auch immer weiter außen vor.
Mit meinem Schicksal bin ich gewiss nicht allein. Die Gesellschaft überaltert ja ob des medizinischen Fortschritts und der verbesserten Lebensbedingungen geradezu. Schizophrener Weise nimmt die Bereitschaft, sich mit seinem Alter abzufinden, aber immer weiter ab. So ist man kaum mehr vor Rentnerrudeln sicher, die in affenartiger Geschwindigkeit mit ihren E-bikes Berg und Tal erklimmen. 60 ist das neue 30. Und alle sehen großartig aus, knackig, fit und teils geliftet. Da viele aber nicht nur äußerlich mit der Generation Y, Millenium oder wie sie alle heißen, mithalten wollen, wird psychologisch verständlich, aber für mich wenig hilfreich, die eigene Epoche gleich mit verdrängt, mindestens aber vertuscht – an wenig erkennt man das wahre Alter mehr als an Erfahrung. Und wer gibt schon gerne zu, ein alter Sack zu sein?
Ich habe damit kein Problem. Mir mangelt es nur an Gleichgesinnten.
Ich muss allerdings zugeben, dass ich gefährdet bin, mich in eine Alters- und Erfahrungsarroganz zu versteigen. Es gibt wenig, das ich nicht schon einmal gehört habe und viel schon Erlebtes. Nichts Menschliches ist mir fremd, und überraschen kann mich schon seit längerer Zeit gar nichts mehr, seien es Modetrends, politische Zusammenhänge und Machenschaften, wirtschaftliche Bankrotterklärungen und Mechanismen, Idole, Stars, Despoten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich bei mir immer mehr und mehr die Grundüberzeugung verfestigt, alles am besten selbst zu wissen und zu können. Das macht das Dasein zwar gelassener und entspannter, aber auch langweiliger.
Also, wie komme ich raus aus dem Dilemma? Ich könnte mich einfach mal auf Neues einlassen.
Das Problem ist nur, dass für mich vieles vermeintlich Niedagewesenes eben doch nur eine Variation von bereits Verhackstücktem ist.
Es gibt natürlich die neuen Medien, denen ich mich verschreiben könnte, aber hier stehen mir meine Sturheit und meine inneren Werte im Weg. Ich habe überhaupt kein Interesse daran, mich und mein Leben möglichst optimal darzustellen, ich erlebe es lieber. Ich will mich auch nicht mit noch mehr Äußerlichkeiten beschäftigen müssen. Ich habe sowieso schon genug damit zu tun, nützliche Informationen aus dem (Main)streameinerlei zu filtern. Außerdem ist mir schleierhaft, wieso manche Menschen, Biographien, Vorlieben und Bilder freiwillig mit Gott und der Welt teilen, für deren Beschaffung und Verwertung man früher ein ganzes Staatssicherheitsministerium unterhalten hat.
Wenn ich derlei durchaus kritische Bedenken äußere, dann schaut mich mein Gegenüber an, als hätte er es mit einem außerirdischen Dinosaurier zu tun, fassungslos, kopfschüttelnd, bestenfalls milde lächelnd angesichts der sich jedem technischen Fortschritt verschließenden Altersstarrsinnigen.
In dem Maße wie ich die Welt nicht mehr wiedererkenne, versteht die Welt mich auch nicht mehr. Vielleicht sollte ich ein Instrument erlernen, da hat sich im Laufe der Zeit, glaube ich, nicht viel am Verfahren geändert, oder eine neue Sprache. Vielleicht sollte ich Bienen züchten. Vielleicht sollte ich eine Protestpartei gründen oder noch mehr Känguru-Chroniken hören.
Oder ich lebe einfach mit meinen Kindern zusammen, präge sie und gebe mein antiquiertes Wissen und meine reaktionären Bedenken, die früher fortschrittlich waren, an sie weiter.
Erste Erfolge konnte ich schon erzielen. Wann immer beiläufig in irgendeinem Zusammenhang das gängige Wort für eine Grenzbefestigung fällt, antwortet mein Sohn manchmal kichernd, manchmal genervt, weil er es schon so oft hören musste, und im schönsten Walter Ulbricht Slang: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“